Tarif: "Was ist ein Tarifvertrag"
von Norbert Remppel, IG Metall
Arbeitsheft 920
Aus der Geschichte des Tarifvertrages
Während der Zunftwirtschaft des Mittelalters waren die Arbeitsverhältnisse
durch strenge Zunftordnungen geregelt. Dadurch war die wirtschaftliche
Existenz der Handwerksgesellen weitgehend gesichert. Mit der technischen
Entwicklung entstand die kapitalistische Wirtschaftsweise; das Zunftwesen
zerfiel.
Liberalismus
Zu Beginn des Kapitalismus wurden die Arbeitsbedingungen noch weitgehend
von der staatlichen Obrigkeit festgelegt. Gegen diese staatliche
Bevormundung, die weit in den privaten Bereich hineinreichte, lehnte
sich das erstarkende Bürgertum auf. Seine zunehmende wirtschaftliche
Macht brachte ihm politischen Einfluß. An die Stelle autoritärer
Lenkung durch den Beamtenapparat trat das sogenannte freie Spiel
der Kräfte. Jeder sollte die Möglichkeit erhalten, sich
nach seine persönlichen Fähigkeiten frei zu entfalten.
Damit wurde der Weg frei für eine grenzenlose Ausbeutung der
Nichtbesitzenden durch die Produktionsmittelbesitzer.
Nach dem Gesetz war jeder frei. Niemand konnte gezwungen werden,
sich den Produktionsmittelbesitzern zu unterwerfen. Die Arbeiter
konnten sich frei entscheiden, ob sie unmenschliche Arbeitsbedingungen
annehmen oder ob sie mit ihren Familien verhungern wollten.
Bewußtseinsbildung: Voraussetzungen für Gewerkschaften
Viele lehnten sich auf; sie zerschlugen in ihrer Verzweiflung Produktionsanlagen
und erstrebten eine Erneuerung des Zunftwesens. Nur langsam setzte
sich die Erkenntnis durch, daß die neue technische Produktionsweise
eine Rückkehr zur Zunftwirtschaft unmöglich machte, und
daß nicht die neuen Produktionsmittel, sondern die Besitz-
und Herrschaftsverhältnisse die Ursache ihres Übels war.
Erst diese Einsicht schuf die Voraussetzung für gewerkschaftliche
Zusammenschlüsse.
Gesetzgebung als Machtinstrument, Koalitionsverbot
Die Kapitalbesitzer erkannten die Gefahr, die ihre gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Vormachtstellung durch solche Zusammenschlüsse
drohte. Mit Hilfe der Gesetzgebung versuchten sie, die bestehenden
Herrschaftsverhältnisse zu sichern. In der 1845 erlassenen
Allgemeinen Preußischen Gewerbeordnung auch heißt es:
"Diejenigen Gehilfen, Gesellen und Fabrikarbeiter, die andere
zu einem Tun zu verleiten suchen, daß sie die Einstellung
der Arbeit oder die Verhinderung der selben verabreden oder zu solch
einer Verabredung auffordern, können mit Gefängnis bis
zu 2 Jahren bestraft werden."
Damit hatten sich die Mächtigen ein Instrument geschaffen,
mit dem sie die Arbeiter beliebig unterdrücken können.
1869 Koalitionsfreiheit
Trotzdem setzte sich die Arbeiterbewegung in opferreichen Kämpfen
durch. Nach und nach wurden in den einzelnen deutschen Ländern
die Koalitionsverbote gelockert oder aufgehoben. 1869 wurde den
unter die Gewerbeordnung fallenden Arbeitnehmern die Koalitionsfreiheit
gewährt. Allerdings hatten diese Koalitionen eine sehr schwache
Rechtsstellung. Außenseiter wurden unter besonderen Schutz
Angestelle und die Arbeitgeber konnten von Verpflichtungen, die
sie gegenüber Arbeitnehmerkoalitionen eingingen, jederzeit
wieder zurücktreten.
Das galt vor allem für Tarifverträge.
Das Wort Tarif bedeutet soviel wie Preis- oder Gebührenliste.
Die Bezeichnung Tarifvertrag entstand zu einer Zeit, zu der diese
Verträge fast nur Lohnregelungen enthielten. Der Begriff wurde
beibehalten, obwohl er inzwischen zu eng geworden ist. Besser
wäre Kollektiv-Arbeitsvertrag.
1873 erster Tarifvertrag
Der erste Abschluss eines Tarifvertrages ist den Leipzigern Buchdruckern
im Jahre 1873 gelungen. Unter den Arbeitnehmern war die politische
Zweckmäßigkeit von Tarifverträgen lange umstritten.
Viele sahen darin ein Paktieren mit den Arbeitgebern und eine Schwächung
des Klassenkampfes. Sie wehrten sich dagegen, ungerechte Verhältnisse
vertraglich anzuerkennen. Schließlich setzte sich aber die
Auffassung durch, daß durch Tarifverträge der Gegenseite
schrittweise Boden abgewonnen werden könne. 1899 erklärte
der Kongress der freien Gewerkschaften den Abschluss von Tarifverträgen
zum erstrebenswerten Ziel.
Die Arbeitgeber wehrten sich mit allen Mitteln gegen Tarifverträge.
Meistens mussten sie durch harte Arbeitskämpfe zum Vertragsabschluss
gezwungen werden. Diese mühsam erkämpften Tarifverträge
waren noch in keiner Weise rechtlich abgesichert. Kollektive Vereinbarungen
über Arbeitsbedingungen hatten noch lange keine unmittelbare
und zwingende Wirkung. Trotz tarifvertraglicher Vereinbarungen versuchten
die Arbeitgeber immer wieder, auch Gewerkschaftsmitgliedern schlechtere
Arbeitsbedingungen aufzuzwingen.
1918 Tarifvertragsordnung
Die entscheidende Wende kam erst mit dem Zusammenbruch im Jahre
1918. Die Wirtschaft lag am Boden. Man war jetzt auf den vollen
Einsatz der Arbeitnehmer angewiesen. Unter dem Druck dieser Verhältnisse
war es erstmals möglich auch die Schwerindustriellen des Ruhrgebietes
zum Abschluss von Tarifverträgen zu zwingen. Erst jetzt gelang
es, den Tarifvertrag durch die Tarifvertragsordnung gesetzlich
zu verankern und den tarifvertraglichen Vereinbarungen über
die Arbeitsbedingungen unmittelbare und zwingende Wirkung zu geben.
Nationalsozialismus, Tarifordnung
Die Nationalsozialisten machten diese Erfolge der organisierten
Arbeitnehmer wieder zunichte. Die Gewerkschaften wurden verboten,
die Tarifverträge durch Rechtsverordnungen, Tarifordnungen
ersetzt. Mit dem nationalsozialistischen Gesetz zur Ordnung der
nationalen Arbeit wurde ein Treuhänder der Arbeit
geschaffen. Dieser war beauftragt, die Arbeitsbedingungen durch
die Tarifordnungen festzusetzen, so weit dies nicht dem Führer
des Betriebes, wie der Unternehmer jetzt genannt wurde, überlassen
blieb. Die Tarifordnungen dürfen nicht mit der Tarif-Vertragsordnung
verwechselt werden. Tarifvertragsordnung ist die Bezeichnung
für das Gesetz, das in der Weimarer Republik das Tarifvertragsrecht
regelte, während die Tarifordnungen Rechtsverordnungen sind,
mit denen die Nationalsozialisten die Arbeitsbedingungen in ihrem
Sinne, d. h. nach den Erfordernissen der Rüstungs- und Kriegswirtschaft,
festsetzten. Sie traten an die Stelle autonom vereinbarter Tarifverträge.
Die Arbeitnehmer der Betriebe - jetzt Gefolgschaft genannt - wurden
gezwungen, sich diesen diktierten Bedingungen zu unterwerfen.
1949 Tarifvertragsgesetz
Nach dem Zusammenbruch der Hitlerdiktatur lag die Wirtschaft wieder
am Boden. Wieder war man dringend auf den vollen Einsatz der Arbeitnehmer
angewiesen. Die Gegner der Arbeiterbewegung mussten sich zu dieser
Zeit im Hintergrund halten. In dieser Situation konnten sich die
Arbeitnehmer durch das Tarifvertragsgesetz von 1949 wieder das Recht
sichern, ihre Arbeitsbedingungen durch die Gewerkschaften auszuhandeln
und in Tarifverträgen zu regeln.
Das Recht, die Arbeitsbedingungen durch Kollektivverträge zu
regeln, musste mühsam erkämpft werden. Interessengruppen,
die versuchten, neue Einschränkungen zu schaffen, wird es immer
geben. Wir müssen deshalb ständig wachsam sein und alle
Versuche bekämpfen, die dieses mühsam errungene Recht
wieder einschränken wollen.
Arbeitsgesetze
Neben den Tarifverträgen gibt es noch eine Reihe von Arbeitsgesetzen,
die in Arbeitsverhältnissen eingreifen. Z. B. das Mutterschutzgesetz,
das Bundesurlaubsgesetz oder die Arbeitszeitordnung u. a. Auch diese
Gesetze kamen nur durch die Aktivität er Gewerkschaften zustande.
Viele dieser Gesetze orientieren sich an Verhältnissen, die
bereits durch tarifvertragliche Vereinbarungen geschaffen waren.
Z. B. Verabschiedet der Bundestag das "Gesetz zur Verbesserung der
wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfallen", wenige
Monate, nachdem die IG Metall durch einen 16-wöchigen Streik
in Schleswig-Holstein eine tarifvertragliche Regelung durchgesetzt
hatte, durch die den Arbeitnehmern der Lohnausgleich im Krankheitsfalle
gesichert wurde.
Viele Bestimmungen der Arbeitsgesetze sind nachgiebiges Recht und
werden durch Tarifverträge verdrängt. Wenn die Gesetze
Mindestbestimmungen für die Arbeitnehmer enthalten, müssen
Tarifverträge die Arbeitnehmer in diesen Punkten besser stellen
als die gesetzlichen Regelungen.
Die Tarifverträge sind für jeden Arbeitnehmer wichtig,
auch für die Unorganisierten. Tarifverträge beeinflussen
nicht nur die Arbeitsgesetzgebung, sie setzen auch das Maß
für das gesamte Lohnniveau und die allgemeinen Arbeitsbedingungen.
Dadurch profitieren auch die Außenseiter, die den gewerkschaftlichen
Kampf anderen überlassen, von der Erfolgen der organisierten
Arbeitnehmer, obwohl sie keinen Rechtsanspruch auf die tarifvertraglichen
Arbeitsbedingungen haben.
Wie gut oder wie schlecht ein Tarifvertrag wird, hängt davon
ab, wie stark die Gewerkschaften sind, ob die Einsatzbereitschaft
jedes einzelnen groß genug ist und ob ihre Finanzkraft einen
wirksamen Arbeitskampf zuläßt. Bei den meisten Außenseitern
fehlt es nur an der Einsicht in die Zusammenhänge. Jeder Gewerkschaftskollege
muss dazu beitragen, über Wesen und Bedeutung des Tarifvertrages
aufzuklären und sich für eine fortschrittliche, betriebsnahe
Tarifpolitik einsetzen. Das ermöglicht eine intensivere Mitarbeit
vieler Kollegen aus den Betrieben an der Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen
und eine Ausdehnung ihrer Rechte am Arbeitsplatz und im Betrieb.
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